Erfolgsgeschichten –
Fortschritt durch Innovation
Im Technologiepark Heidelberg und darüber hinaus in ganz Heidelberg gestalten Gründerinnen und Gründer die Zukunft. Einige der Unternehmen und die Menschen dahinter möchten wir Ihnen hier gerne vorstellen.
BUILDING THE FUTURE OF REHABILITATION
Kontakt:
living brain GmbH
Im Schuhmachergewann 6
69123 Heidelberg
living brain -
Firmenporträt
Mit VR zurück in den Alltag
Am Anfang war die Operation. Julian Specht litt bereits seit Jahren an Epilepsie. Nur ein chirurgischer Eingriff konnte noch helfen. Die Operation gelang. Während der Behandlung kam Specht mit den gängigen Therapien der Neurorehabilitation in Kontakt. Und er erkannte eine Lücke im System: Weshalb spiegelte das übliche Training nicht normale Situationen wie Kaffeekochen wider? Was bräuchte ein Training, das die Alltagskompetenz wiederherstellt?
Zurück in der Uni tauschte sich Julian Specht mit seiner Studienkollegin Barbara Stegmann aus. Aus dem anfänglichen Forschungsinteresse entstand die Idee für ein Start-up. Zusammen gründeten die beiden Studierenden living brain. Das Unternehmen hilft Menschen mit neurologischen Erkrankungen, durch VR(Virtual Reality)-basierte kognitive Neurorehabilitation den Weg zurück in den Alltag zu finden.
Wie verbreitet sind neurologische Erkrankungen?
Julian Specht (JS): Neurologische Erkrankungen betreffen alle Altersgruppen. Schlaganfälle, Hirntumore und Epilepsie treten in jedem Lebensalter auf. Schädel-Hirn-Traumata sind etwa die häufigste Todesursache bei Menschen unter 45 Jahren.
Und wie wirksam sind mögliche Therapien?
Barbara Stegmann (BS): Die meisten dieser Menschen brauchen Unterstützung, um zurück in den Alltag zu finden. Die bislang eingesetzten Therapien können jedoch oft den Transfer zwischen Übung und Realität nicht leisten: Betroffene werden in den Übungen zwar besser, im Alltag verändert sich für sie aber nichts. Wir haben deshalb untersucht, welche Methoden einen wissenschaftlich nachweisbaren Effekt haben und wie wir diese Methoden technisch abbilden können. Die Lösung hieß für uns VR (Virtual Reality). Entsprechend haben wir uns gefragt: Welche Möglichkeiten gibt es? Wie kann man diese umsetzen? Wie sieht der Markt aus? Welche Kosten entstehen? Was brauchen wir dafür?
Virtual Reality (VR) ist eine computergenerierte, in Bild und Ton erlebbare Wirklichkeit. Bei VR denken viele noch an schwere Helme, die über zahlreiche Kabel mit Computern verbunden sind. Doch die Technik wurde erwachsen: Neue Brillen sind leicht und funktionieren kabellos, die Rechenleistung ist im System selbst verbaut. Die mobilen und einfach zu bedienenden Geräte revolutionierten die Verwendung der VR, vor allem im Gaming-Bereich. Barbara Stegmann und Julian Specht zeigen, dass auch die Medizintechnik von dieser Technologie profitiert: Die VR-Softwareteora mind erlaubt es Patientinnen und Patienten, Alltagssituationen mobil zu trainieren. Kaffee kochen, Pflanzen säen, Eis verkaufen – all das ist virtuell möglich und hilft bei der Regeneration kognitiver Fähigkeiten.
Welche Herausforderungen gibt es bei der Anwendung von VR?
BS: Als wir 2016 das Konzept für living brain erstellt haben, kam die erste VR-Brille heraus, die keine dauerhafte Kabelverbindung zum Computer benötigte und zugleich gute Ergebnisse hinsichtlich der Immersion („Versinken“ in einer virtuellen Welt) erzielte. Das machte die Technik alltagstauglicher.
Dennoch ist gerade die Mobilität ein begrenzender Faktor für viele VR-Anwendungen: Die gesamte Rechenleistung erfolgt in der Brille. Das stellt beispielsweise unsere 3D-Artists vor größere Herausforderungen. Wir wollen, dass die 3D-Umgebung der von uns angebotenen Übungen möglichst realistisch ist und das kostet Performance. Es ist viel Optimierungsarbeit nötig, bis die Objekte mit der begrenzten Rechenkapazität in hoher Qualität dargestellt werden können.
Sind das nur technische Herausforderungen?
BS: Nein. Wir müssen immer auch erwägen, was für unsere Zielgruppe das Beste ist. Die Möglichkeiten von VR sind fantastisch, die Entwicklung der Technik ist atemberaubend. So gibt es für die Navigation in der virtuellen Welt jetzt auch Handschuhe und Hand-Tracking anstelle der Interaktion mit Controllern. Wir dürfen uns aber nicht nur für eine neue Technik entscheiden, weil sie innovativ ist oder man sie selbst cool findet.
Wie wichtig ist das Design der 3D-Umgebung?
BS: Sehr wichtig. Die Aufmerksamkeitslenkung im Rahmen der User Experience ist zentral: Wie erreichen wir, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer im Raum umsehen oder dass sie von rechts nach links schauen? Wie sorgen wir dafür, dass sich die Menschen wohlfühlen und nicht unter der VR-Krankheit (eine Art Reisekrankheit, die durch VR-Umgebungen hervorgerufen werden kann) leiden?
Und dann gibt es noch die eigentliche Entwicklungsarbeit: Wir bauen einen kompletten Raum – wie eine Küche, ein Gewächshaus oder eine Strandbude – so realistisch wie möglich nach. Dann sorgen wir dafür, dass die Nutzerinnen und Nutzer in der Lage sind, mit den Objekten zu interagieren: Gläser, die man anfassen und hochheben kann und die zerspringen, wenn sie runterfallen. Auch das erfordert von unseren 3D-Artists viel Arbeit. Darüber hinaus basieren die Interaktion und die Art der Aufgaben auf psychologischen Lernstrategien. Das Design ist also nur ein Bruchteil der Entwicklungsarbeit.
Der Markt für Medizinprodukte bietet große Chancen, gilt jedoch auch als schwieriges Terrain. Guten Renditemöglichkeiten stehen lange Entwicklungszeiten und hoher Kapitalbedarf für Zertifizierung und Validierung gegenüber. Und es gibt eine Besonderheit: Der Gesundheitsmarkt ist in vielerlei Hinsicht ein gedeckelter Markt: Eine bestimmte Summe steht zur Verfügung, um eine bestimmte Anzahl Menschen zu versorgen. Will ein Unternehmen in diesem Markt Erfolg haben, muss es entweder ein Produkt anbieten, das Geld einspart oder mehr Geld einbringt und somit andere Produkte ersetzen kann, oder über ein innovatives Geschäftsmodell neue Kundenkreise erschließen.
Welche Bedeutung hat die wissenschaftliche Fundierung Ihrer Produkte und Dienstleistungen für Sie?
JS: Als Hersteller eines Medizinproduktes hatte der wissenschaftliche Anspruch für uns von Anfang an oberste Priorität. Das heißt, unsere technischen Lösungen sind untrennbar mit der klinischen Rehabilitation, mit psychologischen Lernstrategien und Lernmechanismen sowie mit den Therapiewissenschaften verbunden. Wir integrieren deshalb auch immer das Feedback von medizinischer bzw. therapeutischer Seite in die technische Entwicklung.
Wie muss man sich das medizinische Feedback konkret vorstellen?
JS: Jeder Entwicklungsschritt und jedes neu konzipierte Szenario wird von uns durch klinische Testphasen begleitet. Der Austausch mit Therapeuten und Patienten ist für uns essentiell. Und für unsere Tester sind Feedbackgespräche verpflichtend: Wir stellen unsere Brillen den Privatnutzern kostenlos zur Verfügung, erbeten dafür aber Feedback. Statt den Nutzer während der Entwicklung „an die Hand zu nehmen“, lassen wir uns durch den Nutzer führen.
Vor welchen Herausforderungen steht ein MedTech-Unternehmen?
BS: Der Gesundheitsmarkt ist stark reguliert und risikoavers. Bei den meisten Start-ups in diesem Bereich besteht die Herausforderung zunächst darin, ein Geschäftsmodell zu finden und dann ausreichende Finanzmittel zu akquirieren, um ein Produkt zu entwickeln, mit dem man dieses Geschäftsmodell bedienen kann.
JS: Für ein MedTech-Unternehmen ist es wesentlich langwieriger, ein Medizinprodukt zu entwickeln und es soweit vorzubereiten, dass es in den Verkehr gebracht werden darf, als dies bei den Herstellern herkömmlicher Soft- oder Hardwareprodukte der Fall ist. Allein die Zertifizierung zum Hersteller von Medizinprodukten nach der Medical Device Regulation (MDR) ist sehr aufwendig. Hinzu treten die klinischen Studien, die begleitend zur umfassenden Validierung durchgeführt werden müssen. Zertifizierungsprozesse kosten aber viel Zeit und Studien viel Geld. So verzögert sich der Eintritt in den Markt.
Mit welchem Geschäftsmodell haben Sie Ihre Investoren überzeugt?
BS: Im Moment liefern wir teora mind direkt an Kliniken zur Anwendung in der stationären Behandlung. Ebenso stellen wir die Soft- und Hardware Ergotherapie-Praxen und Privatnutzern für den häuslichen Gebrauch zur Verfügung.
Parallel planen wir ein „reimbursed Software-as-a-Service-Modell“. Wir entwickeln hierzu noch einen letzten Produktbaustein, über den wir auch die Erstattbarkeit unserer Leistungen erreichen werden. Für den Anfang fokussieren wir uns auf das Thema Nachsorge. Den Markteintritt streben wir für nächstes Jahr an.
Im Durchschnitt hat nur eines von zehn Start-ups dauerhaft Erfolg. In Heidelberg und Mannheim finden Start-ups aus dem Bereich der MedTech aber ideale Voraussetzungen, um zu diesem glücklichen Zehntel zu gehören: Bedeutende Forschungseinrichtungen, große Unternehmen, Gründungszentren und Acceleratoren wie der Life Science Accelerator Baden-Württemberg schaffen ein günstiges Biotop für medizintechnische Gründungsvorhaben. Auch das Team von living brain hat von diesen Strukturen profitiert und ist schon ein ganzes Stück vorangekommen. Zahlreiche Preise, Auszeichnungen und Förderungen sprechen für den Erfolg des Geschäftsmodells. Und vor kurzem konnte das Team um Barbara Stegmann, Julian Specht und Till Ikemann eine siebenstellige Finanzierungsrunde abschließen.
Wie lief die Gründung von living brain ab?
JS: Zu Beginn unseres Gründungsprozesses hatten wir bereits einen Eindruck davon, was es bedeutet, ein Start-up auf die Beine zu stellen. Wir hatten beide an der SRH-Hochschule einen Entrepreneurship-Kurs besucht. Und wir hatten viel Support von den unterschiedlichen Initiativen und Förderprogrammen aus Heidelberg und der Region Rhein-Neckar. Im Technologiepark Heidelberg, im Gründer-Institut der SRH und bei den Heidelberg Startup-Partners bekamen wir eine Menge Input von bereits erfahrenen Gründern, von Mentoren der Hochschule und der Universität.
BS: Als wir unseren Studienabschluss in Psychologie feierten, waren wir bereits vier Wochen im Merck-Accelerator. Für mich war die Zeit in diesem Accelerator unglaublich wichtig. Ich habe einen sehr breiten Überblick über die Dinge bekommen, die notwendig sind, um in einem Start-up einen guten Job zu machen. Im Psychologiestudium lernt man nicht so viel über Buchhaltung, Verhandlungen, Vertragsgestaltung und Marketing.
Mittlerweile sind Sie ein ganzes Stück weiter und das Team ist gewachsen…
JS: Ja. Unser CTO Till Ikemann bringt den Teil an Expertise mit, den wir nicht haben. Barbara und ich haben Psychologie studiert. Sie kümmert sich als CEO um alles Wirtschaftliche und die Unternehmensentwicklung. Ich kümmere mich als CSO um alles Wissenschaftliche.
BS: Mit Till und unseren Entwicklern können wir das technische Wissen in unserem Team akkumulieren. Es würde für uns als Medizinsoftware-Hersteller keinen Sinn machen, die technische Entwicklung outzusourcen.
Im Moment sind wir mit Werkstudenten neun Personen, wir schreiben aber immer wieder Stellen aus. Und wir sind immer offen für Praktika in den Bereichen Science, Psychologie, Produktentwicklung, 3D-Artists, Unity-Developer, Business.
Was zeichnet den Standort Heidelberg aus?
JS: Heidelberg ist kleiner als viele Start-up-Hochburgen. Das ist ein Vorteil. Hier ist man nicht nur eines von gefühlt 5.000 Start-ups. Und die Region bietet viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln. Die letzten Start-up-Reports haben dieses Potenzial einmal mehr verdeutlicht. So hat sich etwa auch der Zugang zu Kapital erleichtert.
BS: Der Austausch ist innerhalb der Heidelberger Community intensiver. Jeder kennt irgendjemanden, der das eigene Unternehmen bei bestimmten Fragen unterstützen kann. Dank der vielen guten Universitäten und Hochschulen im Umkreis ist es hier zum Beispiel einfacher, Software-Entwickler zu finden, die im Moment gerade im Start-up-Bereich sehr gefragt sind.
Wohin soll die Reise für living brain gehen?
BS: Unser Ziel ist es, die Neurorehabilitation so individuell zu gestalten, dass sie zu jeder Patientin und jedem Patienten genau passt. Wir wollen dafür sorgen, dass neurologisch Erkrankte endlich die Rehabilitation bekommen, die ihnen wirklich im Alltag hilft: ortsunabhängig, spielerisch und wissenschaftlich.
von Dr. Stefan Burkhardt
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